Für den Wald in den Wald gehen
Martin Kiem (36) ist Psychologe und ausgebildeter Natur- und Waldtherapie-Führer.Er arbeitet mit Universitäten zusammen, um die positiven Effekte des Waldbadens zu zeigen. Er erzählt:
“Der Begriff Waldbaden leitet sich vom japanischen Wort “Shinrin-Yoku” ab, was frei übersetzt so viel heißt wie “baden in der Waldatmosphäre” oder vereinfacht auch “Waldbaden”. Es wird in Europa immer populärer. Man kann natürlich fragen: Was ist der Unterschied zwischen Waldbaden und einem Waldspaziergang? Auf jeden Fall haben sie viel gemeinsam. Es gibt aber auch wichtige Unterschiede. Ein zentrales Kriterium beim Waldbaden ist Langsamkeit. Wer spazieren geht, läuft vier oder fünf Kilometer pro Stunde. Beim Waldbaden geht man in einer Stunde vielleicht 100 Meter. Man hat auch kein spezifisches Ziel, sondern geht für den Wald in den Wald. Dabei gibt es eine goldene Regel: Bemerk einfach alles. Was ich damit meine?
Wenn Sie im Wald spazieren gehen, dauert es normalerweise weniger als zehn Sekunden, bis Ihre Konzentration nicht mehr an den Wald geht. Ihr Gehirn kann entweder über die Welt nachdenken oder sie wahrnehmen* – nicht beides gleichzeitig. Beim Waldbaden versuchen Sie aber, Ihre Gedanken abzuschalten und sich nur an das Hier und Jetzt zu konzentrieren, die Ruhe des Waldes zu genießen und mit allen Sinnen aufmerksam dabei zu sein. Sie müssen den Klang der Natur hören, die klare Luft des Waldes spüren, den Duft des Waldes riechen, die Farben des Waldes in all seiner Vielfalt sehen, die Kräuter der Natur schmecken.
Man fragt mich, wie oft man waldbaden sollte. Es ist schwierig, eindeutig zu antworten. Wenn Sie einmal pro Woche in die Natur gehen, dann gehen Sie zweimal. Je länger und häufiger Sie es machen, desto intensiver sind die Effekte. Aber wenn ich jetzt sagen würde: Sie müssen dreimal pro Woche eine Stunde lang raus, dann würden mir viele Leute sagen: Das schaffe ich nicht. Deshalb bin ich sehr vorsichtig, wenn es um Zahlen geht. Versuchen Sie aber nicht auf die Zeit zu achten, sondern Ihre Ruhe zu entdecken. Schalten Sie Ihr Handy ab, damit es Sie nicht ablenkt.
Menschen brauchen eine Verbindung zur Natur. Das sieht man vor allem, wenn Sie in der Stadt wohnen. Waldbaden hält Körper und Seele gesund. Die Untersuchungen in Deutschland zu diesem Thema sind leider nicht sehr überzeugend. Trotzdem wissen wir: Waldbaden reduziert Stress und hat einen Entspannungseffekt. Es ist für das Nervensystem sehr beruhigend. Auch für das Hormonsystem hat es positive Konsequenzen – aber dafür muss man es lange machen. Und eigentlich sollte jeder ein bisschen Natur in seinen Alltag integrieren, denn zu wenig Natur macht krank.
In Japan wırd Waldbaden als Bestandteil eines gesunden Lebensstils gelobt, und an den Universitäten ist Waldmedizin ein anerkanntes Forschungsgebiet. Seit einigen Jahrzehnten untersuchen dort Wissenschaftler die Auswirkungen, die ein Aufenthalt im Wald auf menschliche Psyche und Physis hat. Demnach verbessert bereits ein kurzes Waldbad Atmung, Puls und Blutdruck. Dass Arzte gegen Burnout** oder Herzkreislauf-Erkrankungen eine Waldtherapie verordnen, ist in Japan nichts Ungewöhnliches.”
*wahrnehmen – сприймати
**Burnout, das – вигорання, виснаження (емоційне)
Wie beschreibt Martin Kiem die Prozesse der Wahrnehmung der Welt in einem Wald?
AIn einem Wald funktioniert das menschliche Gehirn ganz anders als ın einer Stadt.
BWährend eines Waldspaziergangs werden alle Sinne auf den Wald konzentriert.
CDas Nachdenken und die Wahrnehmung laufen beim Waldbaden gleichzeitig.
DWaldbaden bedeutet, dıe Umgebung mit allen Sinnen wahrzunehmen.